2. Birmingham und Soho

[820] Birmingham am Rea liegt unter 52° 33' N.B., hundert sechzig Meilen von London, fast in der Mitte von England, zwischen Lichfield, Coventry und Worcester. Ungeachtet des Kohlendampfes und der metallischen Ausdünstungen, ist Birmingham, selbst nach den Aussprüchen des unglückweissagenden Doktors Price, eine der gesundesten Städte in England, da es einen trockenen Boden hat, und auf Hügeln liegt, die vom Winde bestrichen werden. Dabei sind die Arbeiter nicht so zusammen gedrängt, wie in einigen Deutschen Manufakturstädten, zum Beispiel Aachen, Berlin und Schmalkalden, wo einer dem andern die Luft vergiftet. Vor 1676 war Birmingham noch keine Market town, während daß Wolverhampton längst dieses Privilegiums genoß. Im Jahre 1690 hatte es, nach der Anzahl der Gestorbenen und Gebornen zu rechnen, kaum viertausend Einwohner; 1778 waren, nach Thom. Hanson, schon siebentausend zweihundert Häuser, und zwei und vierzigtausend fünfhundert und funfzig Einwohner. 1789 zählte man gar sechzigtausend Einwohner und eilftausend Häuser. Also hat die Bevölkerung in einem Jahrhundert funfzehnmal zugenommen. Birmingham hatte vor dem Jahre 1690 allerdings schon Manufakturen, aber nur in groben Eisenarbeiten, Nägeln u.d.gl. Gleich nach der Revolution stieg die Industrie. Es wurden Gewehrfabriken angelegt. Die Regierung ließ sich die Waffen für die Armee aus Birmingham liefern, und gab Verbote gegen Französische Metallwaaren. Nun wurden Knöpfe, Schnallen, Uhrketten u.s.w. in England selbst verfertigt. Birmingham und London wetteiferten in der Fabrikation derselben. Aber die Hauptstadt, in der das Geld immer wohlfeiler, und der Arbeitslohn immer theurer wurde, mußte bald weichen. In der Mitte dieses Jahrhunderts war noch kein Kaufmann in Birmingham,[820] der direkte Verbindung mit dem Auslande hatte. Die Londoner Negozianten trieben den commerce d'entrepôt mit Birminghamer Fabrikaten. Jetzt verschreiben Russische und Spanische Kaufleute ihre Bedürfnisse unmittelbar aus Birmingham. Bequemere Ausfuhr durch Verbindung schiffbarer Kanäle und Flüsse, ist für keine Art der Manufakturen so nothwendig, als für Metallfabriken, die eine Menge Brennmaterialien, und schwere, rohe, unverarbeitete Waaren bedürfen ... Birmingham hat seit 1768 eine bequeme Ausfuhr nach allen Meeren, welche die Insel umfließen. Die Steinkohlen sind seit dem Abzuge des Old Canal (1786) nach den Kohlengruben von Wednesbury beinahe um die Hälfte wohlfeiler geworden. Gegenwärtig (1790) kosten 112 Pfund nur 5 Penny. Die Kohlenschiffe sind ungemein lang und schmal, die Kohlen selbst mürbe und stark mit Adern von Schwefelkies durchzogen. Die neu eröffnete Schifffahrt von Wednesbury nach London hat auch Gelegenheit zu einem Absatze jener Steinkohlen nach der Hauptstadt gegeben, wodurch die Newcastler gezwungen sind, ihren Kohlenpreis zu erniedrigen. (Zu einem ähnlichen Zwecke schlug der Berlinische Minister Heinitz einen Kanal im Forste Schweidnitz vor, um den großen Manufakturen eine wohlfeilere Feuerung zu verschaffen). Der Old Canal wurde 1772 bis Autherley verlängert, wodurch eine Verbindung mit der Savern, nach Shrewsbury, Glocester und Bristol, und mit der Trent nach Gainsborough, Hull und London, entstanden ist. Ein Arm dieses verlängerten Kanals führt auch in die Grand Line, die durch Staffordshire fließt, und nach Manchester und Liverpool geht. England hat den natürlichen Vorzug, daß nicht etwa, wie in Deutschland und selbst in Schottland, die Abdachung nach einer Seite geht, sondern daß es in der Mitte der Insel (Derbyshire) am höchsten (nach Bilkington, ungefähr 1500 bis 2500 Fuß über die Meeresfläche) erhoben ist. Daher laufen die Englischen Flüsse nach allen Weltgegenden aus. Die Kunst brauchte diese Ströme nur unter sich zu verbinden, um England auch von innen schiffbarer als alle anderen Europäischen Staaten zu machen.

Noch scheint eine direktere Schifffahrt nach London zu fehlen; aber auch dieser Mangel wird durch den new Canal ersetzt,[821] der durch Tazely, Fishenwik, Tannworth, Polesworth, Atherstone, Nuncaton und Coventry nach Oxford, und von da durch die Themse nach London führt.

Da Birmingham keine chartred privileges hat, so schickt es auch keine Repräsentanten ins Parlament. Daß 60000 Menschen, deren Wohl in so manchen auswärtigen politischen Verhältnissen gegründet ist, und die wiederum einen so wesentlichen Einfluß auf den Reichthum Englands haben – daß diese 60000 keinen Antheil an den öffentlichen Berathschlagungen nehmen dürfen, während daß die armseligen Einwohner von Oldborough über die Herrschaft des Meeres entscheiden: dieses Recht, oder Unrecht, ist weder in dem republikanischen System des Plato, noch in andern klugen Träumereien neuerer Weisen gegründet. Der Fehler einer ungleichen Repräsentation ist der Englischen Verfassung zu oft vorgeworfen, um ihn hier nochmals zu rügen. Nur die triviale Widerlegung, »daß England sich bei dieser Verfassung bisher wohl befunden habe,« verdient eine ebenso triviale Antwort: daß jedes endliche Gute kein höheres ausschließt, und daß es Unwissenheit verräth, Werke des Zufalls, wie doch alle Regierungsformen der bekannten Welt sind, für vollendete Werke menschlicher Überlegung zu halten. Der Verfasser des present state of Birmingham hält den Mangel der Repräsentation für einen der größten Vorzüge dieser Manufakturstadt, weil die Industrie der Arbeiter nie durch Partheigeist und Elektionen gestört wird. Nach einer gewissen Moral, die in allen Übeln einen Trost findet, mag dieses Raisonnement sehr philosophisch seyn; auch konnte ein Einwohner von Aachen, der Deutsche Zunftideen nach England überträgt, dazu verleitet werden. Wie unbeträchtlich aber im Ganzen diese nach sieben Jahren erst wiederkehrende Störung gegen den schöneren, edleren Gewinn an inneren Kräften ist, das kann nur der fühlen, den eigene Erfahrung gelehrt hat, wie sehr die Arbeit gewisser mechanischen Künste die Seele stumpf läßt; wie streng auch in den freiesten Ländern die Disciplin einer großen Manufaktur ist, und wie sehr der durch stete Nahrungssorgen gedrückte Geist es bedarf, wenigstens periodisch erweckt, auf größere Zwecke geleitet, und des wohlthätigen Gefühls von seinem eigenen Werthe kundig zu werden.

[822] Soho, die kleine Manufakturstadt der Herren Bolton, Watt und Fothergill, liegt eine halbe Englische Meile von Birmingham in einer angenehmen Gegend, die durch Wasser und Hügel durchschnitten ist. Die Gebäude sind nicht prächtig, weniger schön als die Preußischen Seidenmanufakturen an der Oder bei Frankfurt, aber auch nicht so kleinlich als die Frankenthaler. Sie sind solid, geräumig, wohl erleuchtet, und ihrem Zwecke gemäß eingerichtet. An tausend Menschen werden hier beschäftigt, worunter viele Kinder, und zum Polieren auch Weiber sind. Der wöchentliche Gewinn eines gemeinen Arbeiters ist im Durchschnitt ungefähr vierzehn Schilling bis eine Guinee, folglich zwei- bis dreimal so groß als in Deutschland: ein Satz, dessen Nothwendigkeit sich nach der hiesigen Wohlfeilheit des Geldes, und der Theurung der Bedürfnisse gleichsam demonstriren läßt. Das Arbeitslohn muß in den verschiedensten Beschäftigungen der Menschen, sobald sie von keiner besondern Geschicklichkeit abhangen, gleich seyn. So weit ich es berechnen konnte, pflegte es im nördlichen Deutschland ungefähr sieben bis neun Groschen täglich zu betragen. Sobald eine Art der Arbeit vortheilhafter als die andere wird, so zieht die Hoffnung größeren Gewinnstes mehrere Menschen an, und durch die Concurrenz der Arbeiter fällt unmittelbar darauf der Lohn für die Arbeit. Das ist der natürliche Gang der Dinge. In despotischen Regierungen, wo das Gesetz seinen einzigen Zweck, Hindernisse zu entfernen, verfehlt, und dadurch selbst Hindernisse verursacht, kann ein Zweig der Industrie bisweilen gewinnreicher seyn, als der andere. Aber auch dieser Vorzug ist gewöhnlich nur momentan.

Um sich von den mannichfaltigen Beschäftigungen in Soho einen Begriff zu machen, muß man die Manufakturen als aus zwei fast ganz abgesonderten Theilen bestehend, betrachten. Erstlich die Knopfmacherei. Diese Arbeit ist die einträglichste, und ernährt den größten Theil der Fabrikanten. Das rohe Materiale, das Kupfer, kommt aus Cornwall und aus den neuen unerschöpflichen Kupferwerken der Insel Anglesey. Es wird durch Walzen und Streckwerke zu Lamellen gezogen, und die einzelnen Knöpfe, wie bei Stückelung der Münzen, durch einen mit Schrauben und Schwungeisen niedergedrückten[823] scharfen Stempel ausgeschlagen. Zu dem Glätten des Randes sind einige Menschen bestimmt, welche den ausgeschlagenen Knopf zwischen zwei bewegliche Wellen spannen, und indem sie – – – –

Quelle:
Georg Forster: Werke in vier Bänden. Band 2, Leipzig [1971], S. 820-824.
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